Ist es ein Gepard? / Is It a Cheetah?

© 1996 Stephanie S. Tolan
Aus dem Englischen  übersetzt von Bettina Zydatiß

Ein Kind, das gut in der Schule ist, gute Noten bekommt, Preise gewinnt und  Resultate erzielt, die jenseits der Norm für seine Altersgruppe liegen, gilt als begabt. Ein Kind, das nicht erfolgreich ist, egal, wie seine angeborenen intellektuellen Fähigkeiten sein mögen, wird immer geringere Chancen haben, erkannt und gefördert zu werden.

Die folgende Geparden-Metapher soll uns das Problem des erfolgsorientierten Denkens verdeutlichen: Der Gepard ist das schnellste Geschöpf auf der Erde. Wenn wir an Geparden denken, ist das erste, was uns zu dem Tier einfällt, seine enorme Geschwindigkeit. Er flitzt vorbei, beeindruckend, einmalig! Ihn zu erkennen ist denkbar einfach. Geparden sind die einzigen Tiere, die eine Spitzengeschwindigkeit von über 110 km/h erreichen können. Wenn Sie die Zeit eines rennenden Tieres mit über 110 km/h stoppen, DANN IST ES EIN GEPARD!

Aber Geparden rennen nicht dauernd. Im Gegenteil, sie sind nur für kurze Zeit in der Lage, diese hohe Geschwindigkeit zu halten. Danach müssen sie sich für einige Zeit ausruhen.

Es ist nicht schwierig, einen Geparden zu erkennen, wenn er gerade nicht läuft, solange wir seine anderen Merkmale kennen. Sein Fell ist goldgelb mit schwarzen Flecken wie das eines Leoparden, aber er hat darüber hinaus die charakteristischen tränenähnlichen schwarzen Flecke unter den Augen. Sein Kopf ist zierlich, er ist schlank, seine Beine ungewöhnlich lang  – all diese körperlichen Merkmale sind entscheidend für einen Läufer. Außerdem ist der Gepard das einzige Mitglied der Katzenfamilie, das seine Klauen nicht einziehen kann. Andere Katzen können dies, ihre Klauen bleiben scharf, so wie das Tranchiermesser in der Messerscheide. Die Klauen des Gepards sollen nicht schneiden können sondern sich vom Erdboden abstoßen. Die biologische Ausstattung des Tieres eignet sich zum Rennen.

Seine Hauptnahrung sind Antilopen, die ihrerseits exzellente Läufer sind. Antilopen sind weder groß noch schwer, so dass auch der Gepard keine große Kraft und Masse benötigt, um sie zu überwältigen. Nur die Geschwindigkeit zählt. In den Weiten seines natürlichen Lebensraumes ist der Gepard nur aufgrund seiner Schnelligkeit in der Lage Antilopen zu erlegen.

Während der Körperbau in der Natur einerseits zweckgebunden ist, bewirkt er andererseits einen starken inneren Bewegungsdrang. Der Gepard will rennen!

Trotz der passenden körperlichen Ausstattung und dem Bedürfnis zu rennen, sind aber bestimmte Bedingungen nötig, wenn der Gepard seine erstaunlichen 110 km/h Höchst­geschwindigkeit erreichen soll. Er muss ausgewachsen, gesund, fit und ausgeruht sein. Er braucht genügend Raum zum Rennen. Darüber hinaus wird er am ehesten geneigt sein schnell zu laufen, wenn er hungrig ist und sich Antilopen finden, die er jagen kann.

Cheetahs on the Edge – Director’s Cut from Gregory Wilson on Vimeo. 7 min

Sperrt man einen Geparden in einen Käfig von 3 x 4 Metern, wird er vielleicht hin und her wandern oder sich in ruheloser Verzweiflung gegen das Gitter werfen, aber er wird nicht 110 km/h laufen.

IST ER DANN TROTZDEM EIN GEPARD?

Wenn der Gepard Kaninchen jagt, die nur 20 Stundenkilometer laufen können, braucht er bei der Jagd nicht seine Höchstgeschwindigkeit aufzubieten. Täte er dies, würde er an der Beute vorbeiflitzen und Hunger leiden. Auch wenn er zum Training, zur Entspannung oder zum Ausleben seines Bewegungsdranges  für sich allein schneller läuft, wenn er ausschließlich Kaninchen zum Jagen bekommt, wird er nur so schnell laufen wie nötig, um Kaninchen zu fangen.

IST ER DANN DENNOCH EIN GEPARD?

WENN ER IM ZOO GEFÜTTERT WIRD, RENNT ER VIELLEICHT GAR NICHT MEHR!

IST ER DANN NOCH IMMER EIN GEPARD?

Wenn der Gepard krank ist oder ihm seine Beine gebrochen wurden, kann er
nicht einmal gehen.

IST ER IMMER NOCH EIN GEPARD?

Und schließlich: wenn der Gepard erst sechs Wochen alt ist und noch nicht 110 km/h Spitzen­ge­schwin­digkeit bringt,

IST ER DANN „EIN POTENZIELLER“ GEPARD?

Ein Schulsystem, das Begabung an Verhalten, an Erfolg und an Leistung festmacht, ist genauso unfähig Hochbegabung zu erkennen und ihr Rechnung zu tragen, wie ein Zoo, der seinen Geparden gerecht werden will, sie aber nur an ihrer Geschwindigkeit misst. Wenn ein Gepard mit Topgeschwindigkeit läuft, ist er kein außergewöhnlicher Gepard. Obwohl er eine Leistung bringt, die keine andere Katze zu zeigen vermag, ist er in einer Gruppe von Geparden völlig normal.

Für Löwen, Tiger und Leoparden, ja für jede andere Großkatze, wären die biologischen Merkmale des Geparden Missbildungen. Weit davon entfernt eine perfekte Katze zu sein, wäre der Gepard mit Mühe überhaupt als Katze einzuordnen. Er ist nicht groß genug, um ein Gnu niederzustrecken, und auch die nicht einzuziehenden Klauen bleiben nicht scharf genug, um die dicke Haut des Tieres aufzureißen. Und bedenkt man die Neigung von Geparden, sich viel zu bewegen, würden andere Katzen, die gern ausgiebig in der Sonne dösen, ihn vielleicht als hyperaktiv ansehen.

Wie Geparden können auch hochbegabte Kinder leicht zu identifizieren sein. Wenn ein Kind sich mit fünf Jahren selbst Griechisch beibringt, im Alter von sechs Literatur für Achtklässler liest oder Rechenoperationen von Zweitklässlern vornimmt, können wir mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass es sich um ein hochbegabtes Kind handelt. Obwohl die Umwelt diese Tätigkeiten als besondere Leistungen einstufen mag, handelt es sich weniger um ein hoch leistendes Kind als vielmehr um eines, das sich im Rahmen seiner Anlagen normal verhält und sein biologisches Potenzial nutzt. Ein solches Kind hatte offensichtlich viel ‚Auslauf’ und einen Grund laufen zu wollen. Es ist fit und gesund und seine Fähigkeiten wurden nicht eingeschränkt. Man muss nicht viel über die Merkmale von Hochbegabung wissen, um dieses Kind ausfindig zu machen.

Für außergewöhnlich intelligente Kinder sind Schulen das, was der Zoo für Geparden bedeutet. Viele Schulen stellen einen 12 m² großen Käfig zur Verfügung und geben damit dem ungewöhnlichen Geist keinen Raum zu Höchstgeschwindigkeiten aufzulaufen. Viele hochbegabte Kinder sitzen in ihren Klassenräumen genauso wie große Wildkatzen in ihren Käfigen: schweigend und mit trüben Augen. Manche können dem Bewegungsdrang nicht widerstehen, auch wenn sie ihn nicht richtig ausleben können, und wandern ruhelos am Gitter auf und ab, brüllen und langen nach ihren Wärtern oder werfen sich gegen die Käfigwand bis sie sich selber Schaden zufügen.

Sogar offene, aufgeklärte Schulen schaffen eher ein Umfeld das, vergleichbar mit dem offenen Gehege im Zoo für den Geparden, ein wenig Auslauf gewährt, nicht aber genügend Raum für den heranwachsenden Geparden, um seine Muskeln und Ausdauer zu trainieren und später ein 110 km/h Sprinter zu werden. Kinder in Käfigen oder Gehegen, ganz egal wie intelligent, die man hindert, ihre geistigen Fähigkeiten zu nutzen, werden vielleicht niemals ihr vorhandenes Potenzial ausschöpfen.

Ein Zoo, egal wie viel Auslauf er seinen Geparden zugesteht, füttert keine Antilopen, die der Gepard natürlicherweise jagen würde, will er nicht Hunger leiden. In ähnlicher Weise bieten Schulen außergewöhnlich klugen Geistern nicht genügend Anreiz, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Selbst in einem Hochbegabtenkurs mögen die Aufgaben und Anregungen nur den Kaninchen entsprechen, für die man nicht so schnell rennen muss, um sie zu erwischen. (Dabei werden manchmal Kinder, von denen man annimmt, sie seien höchstbegabt, als Minderleister bezeichnet, weil sie NICHT mit Höchstgeschwindigkeit Kaninchen jagen wollen.)

Ohne Hochbegabtenkurse gleicht Schule dem akademischen Äquivalent von Zoo-Fertigfutter. Futter, für das man sich überhaupt nicht anstrengen muss. Manche Kinder lehnen solch uninteressante, tote Nahrung gänzlich ab.

Um nicht nur die körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln sondern auch Strategien für die Antilopenjagd in der Wildnis, braucht der Gepard Antilopen, denen er nachjagt. Er braucht dafür genügend Raum und einen Geparden als Vorbild, von dem er gezeigt bekommt, wie das geht. Ohne Anleitung und Übung wird er wichtige Überlebensstrategien nicht erlernen können.

Kürzlich zeigte eine Fernsehdokumentation über Geparden im Löwengebiet einen ungewöhnlichen Sachverhalt in der Wildnis. Löwen töten Gepardenjunge. Sie fressen sie nicht, sie töten sie nur. Sie scheinen viel Mühe darauf zu verwenden, sie ausfindig zu machen und zu töten (obwohl Geparden keinesfalls eine Bedrohung für das Überleben von Löwen darstellen).

Ist das Bösartigkeit? Freizeitspaß? Keiner kann das sagen. Wir wissen nur, dass Löwen dies tun. Gepardenweibchen verstecken ihre Bruthöhlen und geben sich allergrößte Mühe, ihre Jungen zu beschützen, indem sie sich möglichst unauffällig dem Bau nähern, ihn nur in der Nacht verlassen oder wenn die Löwen außer Reichweite sind. Hochbegabte Kinder und ihre Familien kommen sich manchmal vor wie Geparden im Löwengebiet.

An manchen Schulen wird von äußerst klugen Kindern verlangt Dinge zu tun, für die sie nicht ausgestattet sind (wie Geparden, von denen man erwartet, dass sie mit ihren Klauen Gnus aufschlitzen – Löwen können das doch auch!) während gleichzeitig Merkmale, die mit ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten einhergehen, wie Intensität, Leidenschaft, hohe Energie, Unabhängigkeit, moralisches Empfinden, Neugier, Humor, ungewöhnliche Interessen und das Bestehen auf Wahrheit und Genauigkeit als Probleme gesehen werden, die man beheben muss.

Äußerst kluge Kinder fühlen sich vielleicht manchmal wie von Löwen umzingelt, die sie lächerlich machen oder sie wegen ihrer Andersartigkeit ausschließen, die ihnen die Beine brechen oder ihnen Drogen verabreichen, damit sie langsamer gehen müssen, im Gleichklang mit dem Tempo der Löwen. Verwundert es, wenn sie versuchen zu entkommen? Wenn sie ein Löwenkostüm anziehen, um nicht weiter aufzufallen? Wenn sie zurückschlagen?

Diese Metapher, wie jede Metapher, trägt nicht auf Dauer. Hochbegabte Kinder besitzen keine charakteristischen Flecken oder Klauen, die sie nicht einziehen können, an denen man sie erkennen könnte, wenn sie nicht die erwartete Leistung bringen. Darüber hinaus ist die Höchstgeschwindigkeit des Geparden ein leicht zu messendes Einzelmerkmal. Hochbegabte Kinder hingegen unterscheiden sich sehr voneinander. Es gibt kein einzelnes Merkmal, anhand dessen man sie ausfindig machen könnte, selbst wenn sie Leistungen zeigen. Außerdem mag das größte Talent eines Kindes in der akademischen Welt nicht als Leistung betrachtet werden und völlig unbeachtet bleiben. Während dieser Sachverhalt einige Kinder davor bewahrt, von räuberischen Löwen mutwillig zerfleischt zu werden, verhindert er andererseits, dass diese Kinder als das erkannt werden, was sie sind: Kinder mit fundamentalen angeborenen Unterschieden, so allumfassend wie die Unterschiede zwischen Geparden und anderen Großkatzen.

Dass man sie nicht sogleich erkennt, will nicht heißen, dass es nicht Wege gäbe, sie zu  identifizieren. Es heißt nur, dass man mehr Zeit und Mühe aufwenden muss, sie zu finden. Pädagogen müssen Merkmale ungewöhnlicher Intelligenz kennen und diese durch genaue Beobachtung einzelner Kindern wahrnehmen. Sie werden nicht nur erfahren, dass hochbegabte Kinder in der Lage sind Dinge zu tun, die andere nicht beherrschen, sondern auch, dass es Aufgaben gibt, die andere Kinder bewältigen, Hochbegabte indessen nicht.

Jedes Lebewesen hat den inneren Drang, seinen biologischen Plan zu erfüllen. Das trifft auch auf ungewöhnlich intelligente Kinder zu. Manchmal müssen Käfiggitter entfernt und Gehege erweitert werden. Einfach zu handhabendes, billiges Fertigfutter muss zumindest ab und zu durch lebendige, geistig herausfordernde Beute ersetzt werden.

Noch viel wichtiger ist, dass in Schulen ein Bewusstsein dafür entsteht, dass man den Bedürfnissen dieser Kinder nach Schutz und Pflege gerecht wird. Und nicht nur das, sie haben das gleiche RECHT wie andere, ihren Fähigkeiten entsprechend gefördert zu werden.

Artenvielfalt ist ein Grundprinzip allen Lebens auf unserem Planeten. Es erlaubt die Anpassung an veränderte Bedingungen. Wie Geparden sind hochbegabte Kinder in unserer Gesellschaft vom Aussterben bedroht. Genau wie Geparden haben sie ihre Daseinsberechtigung, sie füllen eine bestimmte Nische im Lebensentwurf. Zoologische Gärten mit all ihren Einschränkungen mögen wichtig sein für den Fortbestand der Geparden. Viele tun ihr Bestes, ihren Gefangenen zur Verfügung zu stellen, was sie zum Überleben in der Wildnis bräuchten.

Schulen können das Gleiche für ihre hochbegabten Kinder tun.

Wenn wir uns nicht verpflichten, diese Kinder zu retten, werden wir sie weiterhin verlieren und damit auch den Beitrag, den sie der Gesellschaft hätten leisten können.

Titelfoto von Lukas Kaffer (Super.lukas), A little cheetah lying on his mom Wikimedia Commons